Das Arbeiten bei geöffneten Schutzeinrichtungen ohne zusätzliche Schutzmaßnahmen stellt ein nicht tolerierbares Risiko dar. Für Tätigkeiten, bei denen sich nicht vermeiden lässt, mit geöffneten Schutzeinrichtungen zu arbeiten, muss ein Paket an Maßnahmen getroffen werden, um das Verletzungsrisiko so gering wie möglich zu halten. Das Unfallgeschehen zeigt auch, dass für diese Tätigkeiten Schutzeinrichtungen manipuliert werden. In der Folge kommt es zu Unfällen mit teilweise schweren Verletzungen. Ziel des Schutzkonzeptes ist es daher, diese Arbeiten ohne Manipulation der Schutzeinrichtungen ausführen zu können. Diese Fachbereich AKTUELL beschreibt eine Betriebsart „Tippbetrieb bei geöffneten 
Schutzeinrichtungen“, die eine angemessene Risikoreduktion für Tätigkeiten sicherstellt, bei denen vorübergehend Schutzeinrichtungen geöffnet sein müssen. Für die Realisierung dieser Betriebsart wird in der Regel ein zusätzliches handbetätigtes Befehlsgerät verwendet, das mit einer Zustimmungseinrichtung (Zustimmungsschalter) und einem oder mehreren Tipptastern (Befehlseinrichtungen mit selbsttätiger Rückstellung) ausgestattet ist. Gleichwohl besteht bei dieser Betriebsart ein höheres Risiko, als wenn bei geschlossenen Schutzeinrichtungen gearbeitet wird. Ein hohes Risiko entsteht z. B. an den Kurbelwellen der Hubwerke, die sich in ganzen Umdrehungen kreisförmig oder aber in Kreisabschnitten hin- und herbewegen. Ein durch Pleuel verbundenes Werkzeug kann sich dabei in höchster Position vor, im oder hinter dem oberen Totpunkt des Kurbelwellenantriebs befinden und sich bei einem nicht sicheren Halt gegebenenfalls unkontrolliert bewegen.
 

Anforderungen an die Betriebsart „Tippbetrieb bei geöffneten Schutzeinrichtungen“ unabhängig von der Antriebsart


Allgemeine Anforderungen für den Tippbetrieb

Schutzeinrichtungen, die für den Tippbetrieb nicht geöffnet werden müssen, müssen aktiv bleiben. Gefahrbringende Bewegungen von Bauteilen, die für die Arbeitsaufgabe nicht erreicht bzw. beobachtet werden müssen, müssen durch zusätzliche lokale Schutzeinrichtungen gesichert sein, z. B. müssen Kettentriebe und Zahnräder abgedeckt sein. Maßnahmen zur Befreiung von Personen müssen auch in der Betriebsart „Tippbetrieb bei geöffneten Schutzeinrichtungen“ vorhanden und wirksam sein.
Die durch den Tippbetrieb ausgelösten Bewegungen müssen für die Bedienperson logisch und  vorhersehbar sein, um die Gefährdung besser einschätzen zu können. Dazu gehört z. B. auch, dass die Anordnung der Betätiger für die Tippfunktion mit der Bewegungsrichtung des Hubwerks übereinstimmt.
 

Auswahl der Betriebsart Tippbetrieb

Die Wahl der Betriebsart „Tippbetrieb bei geöffneten Schutzeinrichtungen“ muss durch einen Betriebsartenwahlschalter erfolgen, der nur mit Schlüssel oder Passwort oder Benutzer-Chip betätigt werden kann, um die Beschränkung auf einen hierfür qualifizierten Personenkreis zu gewährleisten. Mechanische Betriebsartenwahlschalter müssen in allen Stellungen abschließbar gestaltet sein. Der Schlüssel muss sich in allen Positionen abziehen lassen.
 

Einbindung des Tippbetriebs in die Steuerung

Der Automatikbetrieb muss während der Betriebsart „Tippbetrieb bei geöffneten Schutzeinrichtungen verhindert sein. Das Umschalten der Betriebsart darf nicht zu einer Gefährdung führen, z. B. durch unerwarteten 
Anlauf der Maschine. Die Umschaltung der Betriebsart darf in der unsicheren Steuerung erfolgen, solange die verriegelten trennenden Schutzeinrichtungen geschlossen sind (und damit die Gefahrstellen nicht erreicht werden
können) und der Zustand der Schutzeinrichtungen durch eine Sicherheitsfunktion überwacht wird. Tipp-Bedienelemente dürfen nur aktiv sein, wenn die Betriebsart „Tippbetrieb bei geöffneten Schutzeinrichtungen“ ausgewählt ist. Gefährliche Bewegungen dürfen im Tippbetrieb erst nach Betätigen des Zustimmungstasters möglich sein. Diese Sicherheitsfunktion muss auf Grund der möglichen Verletzungsschwere sowie der räumlichen Nähe zur Gefahrstelle und mangelnden Möglichkeit zur Vermeidung des Schadens in  Performance Level PL=d (nach EN ISO 13849-1 ausgeführt sein. Zusätzlich müssen Betätiger für die Tipp-Funktion(en) vorhanden sein. Die Funktion der Betätiger braucht nicht  sicherheitsgerichtet verarbeitet zu werden. Ein Ausfall oder Abschalten der Energie während des Tippbetriebs soll zu keiner Gefährdung führen.
 

Ortsbindung der Person während des Tippbetriebs

Die Zustimmungseinrichtung muss so gestaltet sein, dass die Bedienperson während des Tippbetriebs alle ungesicherten Gefahrstellen einsehen kann, z. B. indem sie gezwungen ist, sich während des Tippbetriebs in dem Bereich der Öffnung der Schutzeinrichtung aufzuhalten, die für diese Tätigkeit geöffnet ist. Die Betätigungseinrichtungen müssen so gestaltet sein, dass Zustimmungseinrichtung und Betätiger für die Tippfunktion von einer Person zu bedienen sind.
Diese Ortsbindung kann gewährleistet werden, indem die Bedienelemente am Maschinenrahmen fest angebracht werden. Bei beweglichen Betätigungseinrichtungen wird die Ortsbindung z. B. gewährleistet durch:
● Einsatz von RFID zur Erkennung der Position der Betätigungseinrichtung oder
● Einsatz von Kurzstreckenfunk zur Erkennung der Position der Betätigungseinrichtung bei funkbasierter Betätigungseinrichtung oder
● Begrenzung der Kabellänge (bei einer kabelgebundenen Betätigungseinrichtung).
 

Ortsbindung der Hände während des Tippbetriebs

Bei der Gestaltung der Ortsbindung wird davon ausgegangen, dass es im Rahmen der Störungsanalyse kein vernünftigerweise vorhersehbares Verhalten ist, dass die Betätigungseinrichtung in den Gefahrbereich eingebracht und gleichzeitig bedient wird.
Die Ortsbindung der Hand an der Betätigungseinrichtung ist in der Regel ausreichend, wenn risikoreduzierende Maßnahmen, wie z. B. Langsamlauf/Schrittschaltung, umgesetzt sind. Können diese risikoreduzierenden Maßnahmen nicht angewandt werden, ist auch die Bindung der zweiten Hand erforderlich. Dies gilt insbesondere dann, wenn die maximale Nachlaufzeit der ausgeführten Bewegung der Hubwerke mehr als 0,2 s beträgt oder die Maximalgeschwindigkeit der  ausgeführten Bewegung des am schnellsten bewegten Teils der Hubwerke (z. B. Bahngeschwindigkeit der Kurbel) größer als 250 mm/s ist.
Falls eine Bindung der zweiten Hand erforderlich ist, muss grundsätzlich eine Zweihandschaltung nach DIN EN ISO 13851:2019 [6] verwendet werden. Alternativ kann eine Zweihandbindung auch dadurch erzeugt werden, dass eine Hand durch einen 3-Stufen-Zustimmungstaster und die andere Hand durch einen fest installierten 2-Stufen-Zustimmungstaster gebunden ist. Zur Vermeidung der Betätigung mit nur einer Hand müssen beide Taster so angeordnet sein, dass eine gleichzeitige Betätigung nicht ohne die Verwendung beider Hände möglich ist (z. B. räumlich getrennte Anordnung).
In diesem Fall sind zur Verhinderung der dauerhaften Betätigung des zweiten Zustimmungstastersalle folgenden Anforderungen zu erfüllen:
● Das Einleiten eines neuen Startbefehls ist nur nach Lösen beider Taster und erneuter Betätigung möglich und
● beide Taster sind flankenüberwacht und
● die Dauer eines Tippzyklus ist auf eine angemessene Zeit begrenzt, z. B. auf 30 s.
 

Anforderungen an den Not-Halt bei Tippbetrieb

Im Gefahrbereich, in dem mit Tippbetrieb gearbeitet wird, dürfen beim Auslösen der Not-Halt-Funktion keine gefährlichen Bewegungen ausgelöst werden. Das heißt, unabhängig davon, ob der Tipptaster gedrückt ist oder nicht, darf es beim Auslösen der Not-Halt-Funktion nicht zu unerwarteten gefährlichen Bewegungen kommen, z. B. zum Absenken der Hubwerke durch Entlüften. Daher kann die Not-Halt-Funktion an einem Hubwerk während des Normalbetriebs eine andere Auswirkung haben als während der Betriebsart „Tippbetrieb bei geöffneten Schutzeinrichtungen“.
Ein Not-Halt muss ausgelöst werden durch:
● Durchdrücken des 3-Stufen-Zustimmungstasters oder
● Betätigen einer Not-Halt-Befehlseinrichtung der Maschine.

Bei den folgenden Aktionen muss kein Nothalt ausgelöst werden, sondern ein Normalhalt ist ausreichend:
● Lösen des 3-Stufen-Zustimmungstasters oder
● Lösen des 2-Stufen-Zustimmungstasters (bei Bindung der zweiten Hand).

Bei der beschriebenen Lösung kann entsprechend den Anforderungen der EN 415-10:2014 auf eine Not-Halt-Befehlseinrichtung an einer ortsveränderlichen Betätigungseinrichtung verzichtet werden.
 

Anforderungen an die Benutzerinformation

In der Betriebsanleitung muss die Betriebsart „Tippbetrieb bei geöffneten Schutzeinrichtungen“ beschrieben sein.
Dazu gehören insbesondere Informationen, …
● dass der Tippbetrieb ein erhöhtes Restrisiko aufweist und deshalb auf einen speziell unterwiesenen und begrenzten Benutzerkreis zu beschränken ist. Die Betriebsanleitung muss die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten dieses Benutzerkreises beschreiben.
● wie die Aktivierung des Tippbetriebs erfolgen muss.
● wie ein Test des Stillstandes gegebenenfalls durchzuführen ist und welche Kriterien für einen bestandenen Test erfüllt sein müssen.
● welche Maßnahmen erforderlich sind, wenn ein Test des Stillstandes nicht erfolgreich ist.
● welche Restgefährdungen insbesondere während des Tippbetriebs bestehen und welche Maßnahmen durch die Bedienpersonen zu beachten sind.

Zu den Restgefährdungen gehören z. B.
‒ potenzielle Energien durch angehobene Lasten bzw. Werkzeuge,
‒ bei pneumatisch angetriebenen Hubwerken deren plötzliche Bewegung nach Lösen einer Verklemmung, z. B. im Fall von Produkt im Werkzeug, durch den Druck der eingesperrten Luftvolumina im Zylinder (Federeffekt),
‒ unerwartete Bewegungen durch Undichtigkeiten im Pneumatiksystem,
‒ unerwartete Bewegungen durch Entlüften der Druckluftvolumina im Zylinder,
‒ gefährliche Bewegungen während der Nachlaufzeiten, die je nach Gestaltung der Zylinder-/Ventilkombination unterschiedlich lang sein können (pneumatische Signalkette).

● in welchen Intervallen welche Wartungs- und Instandhaltungsmaßnahmen erforderlich sind, um z. B. das Verharren des Antriebs (der Kurbelwelle) im unsicheren Zustand zu verhindern.
● wie die Not-Halt-Funktion in den verschiedenen Betriebsarten wirkt.
 

Quelle FBNG-018

Tags:
Created by Michael Kieviet on 2025/05/12 08:45
    

Tips

Did you know that you can improve XWiki? Take 5 minutes to fill this survey and help this open source project!

Need help?

If you need help with XWiki you can contact: